Duran Adam

Eigentlich war der uralte Streit, ob denn Kunst eine Gesellschaft verän­dern kann, längst abge­hakt. Das kann sie nicht wirk­lich. Aller­höch­stens ver­mag sie ein biss­chen aufzuk­lären. Und selbst diese Ein­sicht ist mehr als angegilbt.

Dass es auch anders kom­men kann, zeigen die Ereignisse der ver­gan­genen Tage in Istanbul:
Nach­dem die türkische Polizei am ver­gan­genen Mon­tag alle Demon­stran­ten auf dem Tak­sim-Platz gewalt­sam ver­trieben hatte, stand am Abend ein einzel­ner Mann auf dem Areal. Stumm har­rte er aus und blickte dabei in Rich­tung des Atatürk – Kul­turzen­trums. Pas­siv, ganz Demon­stran­ten – untyp­isch, ohne Transpa oder anderes Protest – Inventar.

Es brauchte einige Stun­den, bevor die völ­lig irri­tierte Polizie denn Mann nach voraus­ge­gan­gener Durch­suchung verhaftete.

Doch da war es schon zu spät. Auch das half nichts mehr. Denn diese Protes­tak­tion „Ste­hen­der Mann“ des türkischen Chore­o­graphen Erdem Gündüz hatte bere­its Schule gemacht. In der Lan­dessprache heißt sie klangvoll „Duran Adam“.

Rasend schnell hatte sich seine Geste über die sozialen Net­zw­erke im Inter­net ver­bre­itet. Später dann kom­men­tierte dann auch Erdem Gündüz seine Aktion: „Ich stehe hier, weil wir keine freie Presse haben. Das ganze Sys­tem muss sich ändern. Mit dem Rück­tritt der Regierung ist es nicht getan.“

Und so ste­hen seit Dien­stag immer mehr schweigende Men­schen auf öffentlichen Plätzen in Istan­bul, Ankara und anderen türkischen Städten.

Ein klas­sis­ches Beispiel, was kollek­tiver Min­i­mal­is­mus aus­richten kann. Manche nen­nen es gle­ich „Post­mod­erner Paz­i­fis­mus“. Dage­gen sind die viel­gelobten Flash­mobs im Netz Kasperle – Theater.

Über Nacht ist Erdem Gündüz zur Ikone des Protests in der Türkei des Jahres 2013 geworden:
Sein spon­taner „Stand­ing Man“ hat das Zeug dazu, lang­weilige zeit­genös­sis­che Ober­flächenkunst auf ihre Ursprünge einzu­dampfen und um eine längst fäl­lige Dimen­sion hinzuzufü­gen. Nie­mand hatte das auf dem Zettel.

Seit zwei Tagen kön­nte die roman­tis­che Mähr von der Ohn­macht der Kunst in der Gesellschaft für einen Moment vom Tisch sein.

Manch­mal reicht sowas aus. The­o­riefrei und ungeplant.